Nähen: die unterschätzte Tätigkeit

Es ist vollbracht! Ich habe mein erstes Sommerkleid “La Playa” im Neckholderstil genäht. Und das Beste daran: Es passt auch noch wunderbar! Der Sommer kann kommen. Das einzige Manko vielleicht: es ist nicht aus einem meiner Stoffdesigns. Ich hatte es erstmal mit einem günstigeren Stoff probegenäht. Der ist allerdings auch wunderschön und insofern freue ich mich über das Kleid genauso. Fotos wird es hier allerdings erst geben, wenn das Kleid auch aus einem meiner Stoffe existiert.

Nähfortschritte

Alles in allem muss ich sagen, ich habe Fortschritte beim Nähen gemacht. Dass mir dieses Kleid gelingt – nun, da hatte ich doch meine Zweifel. Das Schnittmuster hatte ich mir vor gut einem Jahr gekauft, als ich im Prinzip noch gar nichts damit anfangen konnte. Seither habe ich es bestimmt ein Dutzend mal aufgeklappt, rätselnd betrachtet und dann wieder zugeklappt. Ich dachte mir, ohne Nähkurs und ohne Erklärung eines echten Menschen verstehe ich das nie!

Die Magie des Hintergrundlernens

Dass das jetzt doch möglich war, erkläre ich mir mit dem Phänomen des “Hintergrundlernens”; so will ich das mal nennen. Denn immer wieder fällt mir auf, dass wir, wenn wir erstmal anfangen, etwas Neues zu lernen, auch in den Zeiten lernen, in denen wir eigentlich nicht lernen bzw. uns gar nicht mit dem Gewünschten befassen. Das kenne ich auch aus der Musik, am Klavier und beim Singen. Da ist es ähnlich: Wir lernen etwas und bemühen uns, es zu verstehen. Es gibt Zeiten, da arbeiten wir aktiv und erfolgreich daran und manchmal haben wir das Gefühl, wir kommen keinen Schritt weiter. Zwischendurch ist die Verzweiflung oder der Frust dann so groß, dass wir es beiseite legen, etwas anderes tun, weil wir´s einfach nicht mehr sehen können. Und dann passiert oft etwas fast schon Magisches: Nach einer Zeit, wenn wir es wieder zur Hand nehmen und so ein bisschen ohne echten Willen wieder ausprobieren, was wir können, dann gelingt uns auf einmal etwas, was wir vor dieser Phase nicht konnten. Wow! Das ist dann natürlich absolut klasse, wir sind auf einmal hellwach, fasziniert und begeistert, und es kann weitergehen.

Bei allem lernen wir, ohne es zu merken

Und während ich also davon überzeugt war, dass ich aus so einem Schnittmuster niemals das gewünschte Kleid hervorbringen werde ohne fremde Hilfe, nähte ich anderes: meine Täschchen, die ersten Reißverschlüsse, Tops und Panties für Frauen, Unterhosen für Männer – mit Schnittmuster, Bilderanleitungen und im besten Falle Videos dazu. Dazwischen faltete ich immer wieder diesen Plan von “La Playa” auf, wunderte mich und legte ihn wieder weg. Und dann, neulich, studierte ich dieses Schnittmuster wieder. Und auf einmal ergab das doch irgendwie einen Sinn. In der Beschreibung entdeckte ich dann noch diesen Link zur Bilderanleitung (das hatte ich zuvor überlesen, aber es hätte mir zu den früheren Zeitpunkten auch nicht weiter geholfen).

Auf einmal geht es!

Jetzt war es so weit: Ich bestellte mir den günstigen Stoff und machte mich ans Werk. Und was soll ich sagen? Es ging erstaunlich gut im Sinne, dass mir das Prinzip klar war. Nähen hat eine gewisse Logik und wenn man die erstmal versteht, dann kommt man vorwärts. Und das ist, je weiter man fortschreitet, natürlich eine Kunst für sich. Und die wird viel zu wenig geschätzt.

Nähen: eine der ersten Kulturleistungen

Ich denke mir, dass Nähen sogar eine der völlig unterschätzten bzw. überhaupt nicht gebührend geschätzten Kulturleistungen ist. Unsere Gesellschaft ist mittlerweile fast schon digital verblödet im Sinne, dass die wenigsten überhaupt noch bewusst anerkennen, dass ihre Kleidung genäht werden muss und das eine bedeutende Leistung ist. In unserer Gesellschaft zählen alle rein kopfgesteuerten Tätigkeiten mehr als Handwerksleistungen. Dabei vergessen wir, dass a) jedes Handwerk genauso ein fachlogisches und geordnetes Denken braucht und b) ein Mensch, der nichts zum Anziehen hat, gar nicht vorm Computer sitzen würde, weil sich der Mensch ohne Kleidung bis dahin gar nicht entwickelt hätte.

Mein Fazit

Bei mir müsste also jeder angehende Manager, der sich für den Macher der Welt hält, erstmal zumindest seine Unterhose selbst nähen. Und zwar nicht idiotensicher angeleitet, sondern sich selbst durch ein Schnittmuster arbeitend mit Bildanleitung und ausnahmsweise für den Zwickel bzw. den Einsatz mit Näh-Video. Dazu müsste er sich natürlich auch mit einer Nähmaschine befassen und bei manchen Passagen Geduld mitbringen. Entschleunigung wäre also automatisch auch mit Teil des Programms. Und wer weiß? So manch einer würde vielleicht sogar feststellen, dass es ein unglaublich befriedigendes und gutes Gefühl ist, etwas mit den eigenen Händen hergestellt zu haben. Das wäre meine Handwerkstherapie für menschlich abgedriftete Voll- und Fachidioten. In der Schule müsste das eigentlich schon losgehen. Handarbeiten/Handwerken muss den gleichen Stellenwert und den gleichen zeitlichen Rahmen haben wie z.B. Mathematik. Es geht nicht darum, dass alle alles gleich gut können, sondern darum, dass jeder für das Talent des anderen die entsprechende Wertschätzung entwickelt. Und das gilt für alle Tätigkeiten, egal, was ein Mensch besonders gut kann. Dann wären Löhne wieder gerechter und wir könnten uns menschlich weiterentwickeln.